Patient*innen helfen, ihre Krankheit zu bewältigen: Die Bedeutung subjektiver Krankheitskonzepte

Von Yael Benyamini, Tel Aviv University, Israel und Evangelos C. Karademas, University of Crete, Greece

Anna und Marie sind beide gesund, 45 Jahre alt und leben in einer großen europäischen Stadt. Beide kennen mehrere Personen, welche an COVID-19 erkrankt sind, und beide hören und lesen immer wieder neue Nachrichten über COVID-19. Anna glaubt, dass COVID-19 eine sehr ernsthafte Erkrankung ist. Obwohl sie überzeugt ist, dass sie sich aufgrund ihres relativ jungen Alters von der Krankheit erholen würde, fürchtet sie langfristig anhaltende unangenehme Folgen einer Erkrankung. Daher arbeitet sie so viel wie möglich von Zuhause aus, verlässt das Haus niemals ohne eine Maske und wartet auf die nächste Impfdosis.

Marie denkt, dass COVID-19 einfach eine „Erkältung mit guter Medienwirksamkeit“ ist. Laut ihren Überzeugungen wird sie in ihrem Alter und ohne Vorerkrankungen, sollte sie erkranken, höchstwahrscheinlich nicht sehr beeinträchtigt sein und im schlimmsten Fall ein paar Tage im Bett verbringen, genauso als wenn sie sich eine normale Erkältung eingefangen hätte. Sie trifft auf der Arbeit und auf sozialen Veranstaltungen viele Leute und trägt eine Maske nur, wenn absolut nötig. Für sie gibt es keinen Grund, sich impfen zu lassen und sie ist vor allem besorgt über die möglichen Nebenwirkungen der Impfung.

Anna und Marie haben etwas gemeinsam. Sie sehen die Dinge zwar nicht gleich, aber beide versuchen, dieselbe, potentiell gefährliche Situation zu verarbeiten. Wenn wir uns mit einer gesundheitsgefährdenden Situation konfrontiert sehen, sei es COVID-19, koronare Herzerkrankungen, Gelenkbeschwerden oder ein anderes Problem, dann tragen wir Informationen darüber zusammen. Diese Informationen sammeln wir beispielsweise aus unseren eigenen Körperempfindungen, unserer persönlichen Vergangenheit, von anderen  Personen um uns herum sowie aus den Medien. Unser Ziel dabei ist es, ein kohärentes Konzept der Erkrankung zu entwickeln. Um dies zu erreichen, versuchen wir, fünf Hauptpunkte zu verstehen und zu integrieren: Die Beschaffenheit, Ursachen, Konsequenzen, den zeitliche Ablauf und Genesungs-/Bewältigungsmöglichkeiten.

Warum spielt es eine Rolle, was wir über eine Krankheit denken? Selbst, wenn unser Krankheitsmodell nicht medizinisch korrekt ist, wird es trotzdem bestimmen, wie wir uns in Bezug auf die Erkrankung fühlen und wie wir uns verhalten. Es bestimmt, wie wir versuchen, die Krankheit zu bewältigen, und was wir tun werden, um Symptome zu verhindern und die Erkrankung zu kontrollieren, zu heilen oder in unser Leben zu integrieren, falls möglich. Studien haben gezeigt, dass negative subjektive Krankheitsmodelle (also eine Auffassung einer Erkrankung als sehr bedrohlich, langandauernd und nicht kontrollier- oder behandelbar) in Verbindung stehen mit Bewältigungsstrategien und –folgen wie geringerer Lebensqualität, langsamerer Erholung von der Erkrankung und einem niedrigeren Funktionsniveau bei einigen Erkrankungen wie Krebs oder Diabetes.

Als Praktizierende sollten wir Patient*innen über ihre subjektive Wahrnehmung ihrer Erkrankungen, bzw. derer, für die sie ein erhöhtes Risiko haben, befragen und zwar in einer wertfreien Art und Weise. Wir könnten sie zum Beispiel einfach fragen, was sie über ihre Krankheit in eigenen Worten denken, was ihrer Meinung nach die Krankheit verursacht hat, welche Symptome sie am meisten beunruhigen, ob die Behandlung der Erkrankung ihrer Meinung nach wirkt oder was die Patient*innen tuen, um ihre Symptome zu bewältigen. Wir könnten sie sogar bitten, die Krankheit aufzumalen, denn das Bild könnte viel darüber aussagen, wie sie sich in Bezug auf die Krankheit fühlen und was sie denken. Patient*innen werden nicht oft nach ihrer eigenen Sicht der Dinge gefragt, aber meistens sind sie offen, diese zu diskutieren. Das subjektive Krankheitsmodell abzufragen ist auch für Ärzt*innen und andere Praktizierende im Gesundheitsversorgungsbereich relevant, denn die Sicht der Patient*innen und deren Konsequenz auf das Verhalten (z.B. das Einhalten von Empfehlungen) zu verstehen und zu adressieren könnte zu einer verbesserten Anpassung der Patient*innen führen. Wenn wir zum Beispiel Marie dabei helfen, zu verstehen, dass die potenziellen Nebenwirkungen der Impfung nicht vergleichbar mit den tatsächlichen Folgen von COVID-19 sind, würde das vielleicht auch dabei helfen, ihre ursprüngliche Entscheidung bezüglich der Impfung zu ändern. Dies kann ein erster Schritt in die Richtung von mehr systemischen individuellen oder gruppenorientierten Maßnahmen sein, welche auf die subjektive Wahrnehmung der Patient*innen maßgeschneidert werden, um maximale Effektivität zu erreichen.

Patient*innen zu ermutigen, ihre Wahrnehmung der Krankheit mitzuteilen, kann auch dabei helfen, maladaptive Wahrnehmungen zu identifizieren. Man sollte die Entscheidung, ein subjektives Krankheitsmodell einer Person zu korrigieren, allerdings mit Vorsicht treffen. Beispielsweise kann eine unkorrekte Repräsentation der Erkrankung hilfreich dabei sein, der Person die Angst zu nehmen. Praktizierende sollten immer im Auge behalten, dass das subjektive Krankheitsmodell nur ein kleiner Teil eines größeren, dynamischen und selbstregulierenden Systems ist, welches auch Bewältigungsverhalten, Handlungspläne, Ergebniserwartungen etc. mit einschließt. Daher sollten Praktizierende wahrscheinlich immer alle diese Aspekte der Krankheitswahrnehmung untersuchen und in Absprache mit den Patient*innen entscheiden, wie und bei welchen Repräsentationen interveniert werden soll. Sowohl Top-Down (also abstrakt/kognitive) als auch Bottom-Up (also konkrete, verhaltensbasierte) Interventionsstrategien können erfolgreich sein. Oft ist es auch genauso wichtig, die Krankheitsmodelle von Familienmitgliedern, z.B. von Partner*in oder Eltern, anzuschauen und zu besprechen, da diese auch die Krankheitsmodelle und das Verhalten der Patient*innen beeinflussen können.

Empfehlungen für die Praxis:

  1. Subjektives Krankheitsmodell erfassen – verstehen, wie Patient*innen die Erkrankung auffassen: Lassen Sie die Patient*in ihre Geschichte des Gesundheitsproblems in eigenen Worten (nicht in medizinischen Fachbegriffen) erzählen und untersuchen sie dieses Modell dann weiter mithilfe von offenen Fragen oder Illustrationen. Sie können auch Partner*in oder andere Familienangehörige oder Pflegekräfte nach deren Meinungen zu der Erkrankung fragen (oft unterscheiden sich diese von dem Krankheitsmodell der Patient*in und nehmen Einfluss auch die geleistete Unterstützung).
  2. Subjektive Repräsentation der Behandlung erfassen – Patient*innen haben ihre eigene Meinung über die Effektivität, Vorteile, Risiken und Konsequenzen einer Behandlung, welche oft die Adhärenz bezüglich medizinischer Ratschläge beeinflusst.
  3. Identifizieren von inakkuraten oder dysfunktionalen Krankheitsmodellen, sowie deren Verbindungen zum Verhalten und Wohlbefinden. Bitte denken Sie daran, dass das subjektive Krankheitsmodell für die betroffene Person „psychologisch korrekt“ ist, also, dass es für sie Sinn macht. Ein Krankheitsmodell mag Ihnen als „inakkurat“ vorkommen, aber nicht für den/die Patient*in.
  4. Helfen Sie Ihren Patient*innen, deren Überzeugungen zu verändern – Wenn subjektive Krankheitsmodelle mit dysfunktionalem Verhalten assoziiert sind oder das Wohlergehen der betroffenen Person langfristig bedrohen, dann können Sie den Patient*innen folgendermaßen helfen, ihre Überzeugungen zu ändern: (a) akkurate Informationen bereitstellen, (b) Beispiele von anderen Patient*innen nennen, welche funktionalere Krankheitsmodelle haben (oder lassen sie Patient*innen miteinander in Kontakt treten), (c) benutzen Sie bestimmte Interventionstechniken. Selbst kurze Informationstexte können schon ausreichen!
  5. Unterstützen Sie die Patient*innen, funktionale, krankheitsbezogene Handlungspläne zu entwickeln, welche konsistent mit dem (genauso funktionalen) Krankheitsmodell sind und für das Leben der Patient*innen relevant sind. Krankheitsmodelle sind nicht einfach zu ändern, vor allem in späteren Stadien der Erkrankung. Manchmal ist es daher einfacher, sich auf das Verhalten anstatt auf das Krankheitsmodell zu fokussieren.

 

[Übersetzt von Dr. Theresa Pauly und Benjamin Knopp]

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