Von Amy Barradell, University Hospitals of Leicester NHS Trust
Wenn ich zu Ihnen sagen würde: “Long-COVID”, was würde das für Sie bedeuten?
Ein Teil der Menschen, die sich mit dem Coronavirus 2019 (COVID-19) infiziert haben, leidet auch mehr als vier Wochen nach der akuten Infektion noch unter beeinträchtigenden Symptomen. Sie berichten häufig über sowohl körperliche (z. B. Atemnot, Müdigkeit) als auch psychische Symptome (z. B. Angstzustände, kognitive Beeinträchtigungen). Diejenigen, die unter diesen Symptomen leiden, nennen dies “Long-COVID”.
Meiner Erfahrung nach…
Die Arbeit in einer Long-COVID-Klinik hat mir gezeigt, dass es den Menschen schwerfällt, ihre neuen Symptome (und die Konsequenzen ihrer Symptome) zu akzeptieren, was ihre Selbstmanagementstrategien behindert. Sie konzentrieren sich darauf, was sie vor “Long-COVID” tun konnten und wie sich ihr Leben seit ihrer Diagnose zum Schlechteren verändert hat. Dies deutet auf Erlebnisvermeidung hin (d. h. auf den Versuch oder Wunsch, unerwünschte innere Erfahrungen wie Gefühle, Gedanken, Erinnerungen und Körperempfindungen zu unterdrücken) und die Tendenz, sich auf die Form der Symptome anstatt auf deren Funktion (d. h. als Indikator des Körpers, das eigene Verhalten zu ändern) zu konzentrieren. Dies zeigt, dass die Menschen diesen Erfahrungen nicht offen gegenüberstehen und davor zurückschrecken, im gegenwärtigen Moment zu leben.
Darüber hinaus haben mehr als 25 % der Menschen, die mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, sechs Monate nach ihrer Entlassung weiterhin Symptome einer Depression. Da Depression mit Aktivitätsvermeidung (d. h. mit dem Verzicht auf eine bestimmte Situation) verbunden ist, beteiligen sich die Betroffenen möglicherweise nicht an für sie bedeutsamen Handlungen.
Die Rolle der psychologischen Flexibilität bei Long-COVID
Psychologische Flexibilität ist der Wirkmechanismus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). Sie umfasst drei Säulen der Therapie: (1) die Förderung der Offenheit für Erfahrungen, (2) das Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment und (3) die Beteiligung an bedeutsamen Handlungen. Wie oben beschrieben, scheinen diese Säulen bei Menschen, die mit Long-COVID leben, unausgewogen zu sein. Daher ist es wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzten. ACT kann eingesetzt werden, um Menschen dabei zu helfen, ihre Beziehung zu ihren Beschwerden zu verändern (d. h. ihre Erlebnisvermeidung zu reduzieren), ihre Akzeptanz einer neuen “Normalität” aufzubauen (d. h. ihr Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment zu erhöhen) und sie zu motivieren und zu befähigen, Verhaltensänderungen vorzunehmen, die für sie wichtig sind (d. h. sich an bedeutungsvollen Handlungen zu beteiligen). ACT bei Long-COVID macht bereits Fortschritte: Die Teilnehmer*innen berichteten über ein verbessertes Wohlbefinden und obwohl sie zwar immer noch unter COVID-bedingten Beschwerden litten, fühlten sie sich besser in der Lage, mit allgemeinen psychischen Belastungen (wie Angst) umzugehen.
Einsatz von ACT in der Long-COVID-Klinik: Jo stellt sich vor
Als ich mich zum ersten Mal mit Jo traf, hatte er/sie regelmäßig Symptomrückfälle. Um die Anonymität zu wahren, steht Jo stellvertretend für eine Reihe von Menschen, mit denen ich in der Long-COVID-Klinik gearbeitet habe. Die für Jo am belastendsten Symptome waren Atemnot und Erschöpfung, die die täglichen Aktivitäten sehr erschwerten. Jo hatte Angst vor den Rückfällen und bemühte sich bewusst, alles zu vermeiden, was diese verschlimmern könnte (d. h. Vermeidung von Erfahrungen, Vermeidung des gegenwärtigen Moments). Jo verbrachte wenig Zeit mit Aktivitäten, die ihr/ihm Freude und Sinn gaben (d. h. Vermeidung von bedeutsamen Handlungen).
In unseren gemeinsamen Sitzungen befassten wir uns mit allen Komponenten der ACT:
- Kognitive Defusion (d. h. Gedanken wahrnehmen, anstatt sich in ihnen zu verfangen, und Gedanken kommen und gehen lassen, anstatt an ihnen festzuhalten) – um zwischen Gedanken/Gefühlen und tatsächlichen Erfahrungen zu unterscheiden (diese sind nicht zwangsläufig dasselbe!).
- Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment – um durch die Aneignung von Achtsamkeitsstrategien diesen in Sinneserfahrungen zu verankern (d.h. Gegenwartsbewusstsein).
- Werte erkunden – um Bereiche im Leben zu identifizieren, die am wichtigsten waren.
- Verbindliche Handlungen ergreifen – um sich Verhaltensziele zu setzen, die mit den eigenen Werten übereinstimmen.
- Selbst als Kontext – um Kontakt mit dem “beobachtenden Selbst” aufnehmen und die Gedanken aus der Distanz zu betrachten (d. h. eine genauere Perspektive), ohne sich in ihnen zu verfangen.
- Akzeptanz – um aufzuhören, gegen das zu kämpfen, was sich der Kontrolle entzieht, und sich wieder auf das konzentrieren, was man unter Kontrolle hat (d. h. das Verhalten).
In der zweiten Sitzung setzte sich Jo zwei Verhaltensziele, die auf ihre/seine Grundwerte ausgerichtet waren. Ich setzte Techniken der motivierenden Gesprächsführung (motivational interviewing) ein, um sie/ihn bei der Entwicklung der SMART-Ziele und von “Wenn-dann”-Plänen zur Vorwegnahme möglicher Bedenken zu unterstützen.
Vier Wochen später berichtete Jo mir voller Stolz, dass sie/er ihre Ziele erreicht hatte. Ausserdem hatte Jo mehrere Achtsamkeitsaktivitäten in den Alltag integriert (z. B. die Übung “Leaves on a stream”, ein Dankbarkeitstagebuch und 5 Minuten Yoga). Jo erlebte eine erhöhte psychologische Flexibilität (d. h. wenn eine Person psychologisch flexible ist, trifft sie Entscheidungen auf der Grundlage ihrer Werte und langjähriger Überzeugungen, anstatt sich von den unmittelbaren kurzfristigen Emotionen, die sie gerade erlebt, beeinflussen zu lassen), reduzierte Depressionssymptome und ein erhöhtes Vertrauen in das eigene Selbstmanagement außerhalb der Sitzungen.
Empfehlungen für medizinisches Fachpersonal, die Menschen mit Long-COVID unterstützen:
- Vergessen Sie nicht, wie wichtig eine biopsychosoziale Bewertung ist – ein echtes Verständnis der Komplexität der Long-COVID-Symptome einer Person und deren Folgen ist entscheidend für die Ermittlung von patientenzentrierten Behandlungsstrategien. Scheuen Sie sich nicht davor, Fragen zu stellen wie: “Mit welchem Symptom haben Sie am meisten zu kämpfen?”; “Wie wirkt sich Ihre Atemnot/Erschöpfung/Bewusstseinstrübung (brain fog)… auf Ihr Leben aus?”; “Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie unter Atemnot/Erschöpfung/Bewusstseinstrübung (brain fog) leiden”?
- Erwägen Sie die Messung der psychologischen Flexibilität – die umfassende Bewertung der Prozesse der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (CompACT) ist eine schnelle und validierte Messung der selbstberichteten psychologischen Flexibilität. Sie können schnell feststellen, welche der Säulen der psychologischen Flexibilität gestärkt werden müssen, und Ihre Managementstrategie entsprechend planen (z.B. bei Vermeidung von bedeutsamen Handlungen, erkunden Sie, was die Kernwerte sind, und helfen Sie bei der Festlegung von SMART-Zielen).
- Bieten oder verweisen Sie auf Achtsamkeitsübungen – Achtsamkeitsübungen können in der ACT äusserst wirkungsvoll sein, um Menschen beim Aufbau ihrer Säulen der psychologischen Flexibilität zu helfen. Je nachdem, mit welchen Problemen jemand zu Ihnen kommt, können Sie eine geeignete Übung anbieten. Hier sind einige Ideen:
- Kognitive Defusion – Leaves on a stream
- Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment – Notice 5 things
- Selbst als Kontext – Die Stageshow-Metapher
- Halten Sie sich über die aktuellen Leitlinien auf dem Laufenden– Wie bei vielen Gesundheitszuständen entwickelt sich die Evidenzbasis für Long-COVID ständig weiter. Halten Sie sich daher bezüglich Literatur und klinischen Praxisleitfäden auf dem Laufenden. Die Evidenz für die ACT-Therapie wächst!
- Achten Sie auch auf sich selbst – Die Arbeit mit Menschen, die an Long-COVID leiden, kann herausfordernd sein. Stellen Sie daher sicher, dass Sie regelmässige Supervision oder “Debriefings” mit einer Person Ihres Vertrauens haben. Dies ist nicht nur hilfreich, um bestimmte Patienten zu besprechen, sondern hilft auch Ihnen, während Ihrer Arbeit psychisch gesund zu bleiben.
[übersetzt von Karoline Villinger und Bianca Buerli]